Samstag, 30. Oktober 2010

[Internet] Wheelmap.org


Manchmal (wenn nicht sogar oft) kann es helfen, die Dinge aus der Sicht eines anderen wahrzunehmen. Dieser Andere ist für mich im hier vorgestellten Projekt Wheelmap.org der Rollstuhlfahrer. Wo ich einfach die Stufen zum Theater hochsteige, mich im Restaurant durch verwinkelte Kellergänge zur Toilette vorkämpfe oder auf dem Bahnhof mühelos von Bahnsteig 3 zu Bahnsteig 6 wechsle, stehen Menschen im Rollstuhl oft vor unüberwindbaren Hindernissen: fehlende Rampen und Aufzüge oder einfach zu enge Gänge und Türen verhindern für sie den Besuch bestimmter Orte und damit die Teilnahme am alltäglichen Leben.
Das Projekt Wheelmap.org der Sozialhelden, auf das ich durch die CRE-Sendung 168 gestoßen bin, löst zwar (noch!) nicht das Problem der Unzugänglichkeit – aber liefert einen entscheidenden Baustein dafür: die Dokumentation. Und das ist für die Betroffenen schon mal eine große Hilfe. Basierend auf dem Kartenmaterial von OpenStreetMap kann jeder Kinos, Läden, Restaurants, Bars und alle möglichen anderen Orte in drei Abstufungen als (nicht) rollstuhlgerecht eintragen und somit seine Umgebung mit für Rollstuhlfahrer relevanten Daten taggen. Man kann natürlich auch neue Orte eintragen und kennzeichnen. Das geht über die Website, zusätzlich zum Login dort ist aber noch ein Pflegezugang für OpenStreetMap erforderlich. Und weil man ja nicht immer einen Rechner mit Internetzugang zur Hand hat, wenn man gerade vor dem Lieblingsrestaurant die Speisekarte studiert und einem die Stufen am Eingang daran erinnern, den Laden endlich mal für Wheelmap zu taggen, gibt es seit heute auch eine eigene iPhone-App gratis im App Store. Damit geht des Kennzeichnen und Eintragen der Orte unterwegs quasi nebenbei (wenn man die etwas komplizierte Anmeldung und Verbindung mit OpenStreetMap erst einmal bewältigt hat).
Das langfristige Ziel, möglichst viele Orte in Deutschland, Europa und der Welt einzutragen und zu bewerten und dann damit die Eigentümer und Betreiber von für Rollstuhlfahrer unzugänglichen Orten zum Handeln zu bewegen, bedarf der Mithilfe möglichst vieler Leute an möglichst vielen Orten. Also Browser gestartet und iPhone gezückt und Orte markieren. Rot, orange, grün: so schwer ist das nicht.

Montag, 4. Oktober 2010

[Buch] Judith Zander: Dinge, die wir heute sagten

"Der Held des Films erreicht am Ende genau das, was er wollte, nämlich dass endlich wieder alles um ihn herum in Bewegung kommt", sagt die Regisseurin und Co-Autorin Ann-Kristin Reyels über diese Familiengeschichte.
Dieses Zitat aus dem Katalog der Berlinale 2007 zum Film Jagdhunde fiel mir beim Lesen von Judith Zanders Roman Dinge, die wir heute sagten wieder ein. Denn erstarrt ist das Zusammenleben der Menschen nicht nur auf dem Bauernhof in der Uckermark in Reyels Film, sondern auch in Zanders Bresekow, einem fiktiven Dorf in der Uckermark. Hier spricht man nicht miteinander, hier schweigt man gemeinsam. Und so erfährt der Leser auch nicht aus schnell geschnittenen Szenen und Wortgefechten, was sich hinter den Gardinen der Bresekower abspielt, sondern durch die inneren Monologe von insgesamt neun Personen: "Ecki" steht da über einem Abschnitt oder "Maria" oder "Henry". Jeder erzählt anders und trägt seine Puzzleteile zu dem großen Bild zusammen, dass alle verbindet. Zusätzlich kommen noch John und Paul zu Wort, die nicht zufällig nach zwei Beatles benannten Flusskrebse. Und als Reinkarnation des antiken Chors und Kommentator tritt die plattdeutsch sprechende Gemeinde auf.
Die Geschichte beginnt mit einer Toten: Die alte Anna Hanske ist gestorben und Ingrid, ihre Tochter, reist aus Irland zur Beerdigung zurück in ihre Nicht-Heimat, die sie vor über zwanzig Jahren verlassen hat. 1973, als das Land, in dem Bresekow an der Ostsee döste, noch DDR hieß. Und jetzt, im bundesdeutschen Jahr 1999, gibt es die DDR nicht mehr und das einstmals betriebsame LPG-Gelände in der Mitte des Dorfes ist zur "Elpe" verkommen, einem Sammelplatz für die perspektivlosen Jungendlichen aus der Gegend, ein Platz, an dem sie die Zeit totschlagen.
Dorthin also kehrt Ingrid zurück, zusammen mit ihrem Mann Michael und ihrem Sohn Paul und endlich kommt etwas in Bewegung. Die Leute erinnern sich, versuchen sich zu erinnern: Wie war das damals noch gleich? Wieso ist Ingrid denn damals weg? Was ist damals "im Sommer der Liebe" 1969 passiert? Der Leser ahnt: So heil und idyllisch ist die Welt im Dorf Bresekow hinter Anklam nicht. Ein Stimmenkosmos entfaltet sich vor dem Leser. Judith Zander gibt jedem ihrer "Helden" einen ganz unverwechselbaren Sound: Sonja, der Mutter, die es allen immer recht machen möchte und nicht aus ihrer Haut kann; Romy, ihrer Tochter, die mit den Halbstarken von der Elpe nichts zu tun haben möchte, sich wie alle Teenager für ihre Eltern schämt und in Ella Wachlowski eine Verbündete findet; Maria, die Oma von Ella, die mit Anne Hanske befreundet war, sie immer beneidet hat und am Ende bedauert. Und. Und. Und. Einzig Pastor Wietmann fällt etwas aus dem Rahmen. Zu losgelöst von den anderen Figuren agiert und spricht er, will nicht so recht nach Bresekow passen.
Schon lange habe ich kein Buch mehr so verschlungen wie dieses. Atemlos liest man die einzelnen Abschnitte, vermutet, fiebert mit und begeistert sich an der faszinierenden Sprache, die Judith Zander verwendet. Ein großer Roman über das kleine Leben, über die Abgründe hinter der Idylle, über das schreiende Schweigen und die Distanz der Menschen, die einem am nächsten erscheinen.
"Dinge, die wir heute sagten" steht stand völlig zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2010, der heute Abend im Frankfurter Römer verliehen wird. Das Zeug zum Gewinner hätte dieses bemerkenswerte Debüt auf jeden Fall gehabt.